
Einleitung
»Kommt der Stadtbewohner einmal zur Ruhe, wird er schon nach kürzester Zeit wieder unruhig: Er springt auf, will wieder los, denn es wäre ja gut möglich, dass das, was eben da draußen noch wahr war, sich gerade verändert.« (Frank Keil, Frankfurter Rundschau vom 9.1.2004, S. 18 in: »Vergesst die In-Viertel«.)
Diesen Folgen städtischer Instabilität oder kreativer Stadtluft unterliegt auch die Kirche mit allem, was sie in der Stadt baut. Ob Gebäude oder Gemeinde, ob Initiativen oder persönliche Hilfen – nichts ist mehr unter dem gerne zitierten Kennzeichen zu bewahren »Kirche denkt oder plant oder handelt in längeren Zeiträumen«. Solche Rasanz in den Veränderungen gehört auch zu den leidvollen Erfahrungen der Kreuzkirchengemeinde.
Trotzdem: Die Gemeinde an der Kreuzkirche hat durch alle baulichen, personellen und modischen Veränderungen von Anfang an neben ihrem Namen ein Bild vom Sämann beibehalten. Alexander Harder aus Russland hat es mit seiner Frau geschaffen, immer wieder korrigiert durch eine Mitarbeitergruppe um Pfarrer Karl Buschbeck aus dem Kirchenvorstand der Johannes- kirchengemeinde.
Ursprünglich Altarbild hält es in der neuen Kirche einen prominenten Platz. Obwohl es gar nicht zum Namen der Gemeinde zu passen scheint, zeigt die Einladung zum heutigen Festtag, wie sehr sich die Kreuzkirchen- gemeinde mit diesem Bild identifiziert.
Jesus am Kreuz und der Sämann unterwerfen sich bestehenden Ver- hältnissen. Und doch sind sie Vorgänge sehr viel weitreichender Unter- werfung. Gottes Wille gilt – über alles, sagen sie. Gott bedient sich der Ordnung dieser Welt und füllt sie neu, sagen sie gemeinsam.
Sie scheinen sich aber auch zu widersprechen. Mit dem Kreuz endet Jesu Weg in dieser Welt, säen öffnet den zur Ernte.
Schließlich deuten sie sich jedoch gegenseitig. Was der Mensch gesät hat, den Tod Jesu, wird zu Gottes Ernte, zu einer unvorstellbaren Zukunft für die Menschen. Mit dieser Hoffnung lebt christliche Gemeinde, zumal dann, wenn Kreuz und Sämann ihr Zeugnis bestimmen.
1. Die Kreuzkirchengemeinde: ihre Herkunft und ihre Wurzeln
Die irdischen Wurzeln dieser Kirchengemeinde stecken nicht einfach in zeitnahen Ereignissen, Entscheidungen, Verfügungen, in keinen ortskirchlichen Erweiterungsbedürfnissen, keinen kirchlichen Verwaltungsakten, keinem geistlichen Notstand. Das gab es sicher alles auch. Aber in Hanau weht seit Jahrhunderten Stadtluft, die Neues, Fremdes, Eigenwilliges ins Bestehende trägt. Wozu Flüchtlinge fähig sind, weiß man in Hanau, sieht man in Hanau seit Jahrhunderten, musste mancher in Hanau auch viele Jahrzehnte gegen seinen Willen lernen – und wird es immer und nicht nur in Hanau lernen müssen. Kein Wunder, dass diese Gemeinde den Eindruck macht, als habe Gelungenes aus dem städtischen Langzeitgedächtnis bei ihrer Gründung Pate gestanden.
In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg siedeln sich im damaligen Lamboy Fremde an – geflüchtete Deutsche aus den ehemals östlichen Reichsgebieten. Sie entfalten Bautätigkeit am östlichen Rande des Gebietes, schaffen sich wieder Heimat und damit gleichzeitig den Kern einer neuen Stadtsiedlung, die sich in den Tümpelgarten ausweitet. Sie haben die Bodenständigkeit im Stadtteil, das bürgerliche Element und damit den bestehenden Zusammenhalt der Bevölkerung gestärkt. Die 1948 gegründete Evangelische Baugemeinde fördert diese Entwicklung und fühlt sich gleichzeitig als ursprünglicher Teil der später entstehenden Kirchengemeinde.
Ebenso hat der herangewachsene Stadtteil mit seinem eigenen Charakter als Generationen langes Zuhause des Militärs die Kirchengemeinde beeinflusst. Gerade das Militär mit seinen besonderen Bedürfnissen trägt zur Entwicklung der Dienstleistungen und Leben im Stadtteil in jeder Hinsicht bei mit allen daraus entstehenden sozialen Prägungen und Problemen – bis heute. Davon zeugen nicht nur Etagen und Etablissements, Vorfahren und Vaterschaften, sondern auch ehrbares Handwerk und fleißiges Bürgertum.
Schließlich entfaltet sich noch ungewohnteres Leben im Stadtteil. Nicht nur fremde Kultur, mit der amerikanische Soldaten und ihre Familien nach dem Krieg die Deutschen überraschten und bekannt machten, sondern fremde Religion expressiv geäußert in Kleidung und Verhalten bestimmt den Stadtteil. Menschen, denen es kaum gelingt, hier heimisch zu werden, die ihre aus der vorderasiatischen Heimat mitgebrachten Sitten und Vorstellungen pflegen und verteidigen, die kulturelle und religiöse Distanz täglich und auf der Straße deutlich machen, treffen auf große Offenheit. Gleichzeitig erzeugen sie große Ratlosigkeit wegen ihrer Sprache, ihres Umgangs und ihres Äußeren, die so sehr erkennen lassen, wie wenig Interesse an gemeinsamem Leben besteht, dass die eigentlich weltoffenen Bewohner dieses Stadtviertels Ablehnung zeigen, die so gar nicht zu ihnen passt.
Dass bald danach Ende der 1980er Jahre Menschen gleichen Glaubens, ähnlicher Sprache, kulturell verwandt aus der ehemaligen Sowjetunion ins Lamboyleben treten, hat das spannungsvolle Miteinander nicht gelöst. Doch in der Kirchengemeinde ist bis in den Kirchenvorstand hinein ein mehr oder weniger gelungenes Miteinander von Afrika bis Zentralasien zu erleben.
2. Die sozialen Bedingungen der Kirchengemeinde nach der Statistik und einige ihrer Auswirkungen
Ich verlasse hier die Schilderung der historischen und gesellschaftlichen Bedingungen, mit denen die Kirchengemeinde leben muss, und erinnere an ein paar Fakten über ihre Umgebung, wie sie am Anfang der Chronik dieser Gemeinde – überschrieben »Die Kreuzkirche« – festgehalten sind. Mit einigen wenigen Daten aus der Statistik des dafür zuständigen Amtes der Stadt Hanau ergänze ich sie.
»Von den heute rund 8000 und mehr Einwohnern gehören 64% der evangelischen Kirche an, meist Angehörige des Arbeiterstandes (66%). Einen hohen Prozentsatz nehmen Familien ein, die sich in wirtschaftlicher Notlage befinden, rund 30% der Fürsorgeempfänger der ganzen Stadt.« Pfarrer Karl Buschbeck stellt so das Stadtgebiet in der Chronik dieser Gemeinde vor – unter der Jahreszahl 1953. Stadtteilbild und Stadtteilbevölkerung sind noch von der Nachkriegssituation geprägt. »Über 50 Familien (wohnen) in Baracken und Behelfsheimen, und die zahlreichen hohen Mietshäuser, die vom Bombenterror zum großen Teil verschont blieben, und in die viele Obdachlose der zu 85% zerstörten Stadt hineinströmten, sind überstark belegt«, fährt Pfarrer Buschbeck fort.
Die Kirche scheut sich nicht, unter eben solchen Bedingungen zu beginnen. Eine Holzkirche, »Notkirche im Hanauer Schlossgarten« wird ihr Bild genannt, ist das erste Zuhause der Johanneskirchengemeinde, deren erster Gemeindebezirk die später selbständige Kreuzkirchengemeinde ursprünglich war. Auch die Kindertagesstätte nutzt ein ähnliches Gebäude, Zitat: »eine armselige von den Amerikanern erbetene Baracke«, »die 1948 als Kindergarten eingerichtet worden war« und bald »alle 14 Tage in äußerlich größter Armseligkeit den Gottesdienst beherbergte«.
Kein Hauch von Romantik liegt in diesem Blick zurück. Und doch wird aus der Beschreibung der Anfänge ein besonderer Zusammenhalt in der Gemeinde spürbar. Ungebrochen geschildert haben ihn die Personen auch mir gegenüber, die diesen Anfang noch erlebten. Ich nenne nur Frau Lieselotte Goy, deren von Humor geprägte Schilderungen Geschichten dieser Gemeinde wurden. Nicht nur der Wunsch, die Vorläufigkeit der äußeren Umstände – Baracken – zu beenden, oder die Heimatsuche vieler Gemeindeglieder – überbelegte, noch intakte Wohnbauten – oder der praktische Griff nach dem Nächstliegenden – ein kleines Streichorchester begleitet die Choräle im Gottesdienst – nicht nur diese Umstände stärken den Willen zur Gemeindebildung. Ständiges Wachstum der evangelischen Bevölkerung, sich ausdehnende Randsiedlungen, »nicht zuletzt«, so Pfarrer Karl Buschbeck, die entstehende »Evangelische Baugemeinde ... führte zu dem Entschluss, hier eine neue Gemeinde zu begründen«.
Daneben hat dieser neuen Gemeinde Bürgermeister Dr. Krause bei der Einweihung des ersten Kirchengebäudes – heute vor 50 Jahren – mit seinem Grußwort eine besondere Aufgabe gestellt. »Das Lamboyviertel«, so der Bürgermeister, »besteht zu 2/3 aus Angehörigen der zumeist in Fabriken tätigen Volksschicht, deren Zurückhaltung gegenüber der Kirche mehr und mehr im Schwinden begriffen ist.« Damit spricht er eine auf die Situation im Stadtteil bezogene Auslegung der Bibelstelle auf dem Grundstein (Eph.2,19: »So sind wir nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen.«) an, die später mehr oder weniger gelungen in der Zusammensetzung des Kirchenvorstandes, in öffentlichen Aktionen gegen verheerende Waffensysteme und politischen Auseinandersetzungen Ausdruck finden und das Gemeindeleben wie das Kirchenleben in der gesamten Stadt bestimmen soll.
Kreuz und Sämann, die Übermacht der Verhältnisse und der Gewinn ganz neuer Zukunft, haben den Weg der Kirchengemeinde begleitet. Was zukünftig daraus wird, hängt nicht vom derzeitigen Stand der Bevölkerungsstatistik des Stadtteils ab; er kann aber zum Nachdenken darüber anregen: Zum Jahresende 2002 leben hier 11026 Menschen, davon knapp 25% Evangelische, ebenfalls leicht unter 25% Katholiken und mehr als 50%, deren Glaubenszugehörigkeit im statistischen Bericht der Stadt Hanau schlicht »Andere« heißt. Um zu beurteilen, was das bedeutet, ist der Anteil von mehr als einem Drittel Ausländer im Stadtteil zu berücksichtigen. Sofort stellt sich die Frage nach dem Zusammenleben der Religionen. Denn neben dem Drittel Ausländer gibt es im Stadtteil auch noch die inzwischen eingebürgerten oder auch zugezogenen deutschen Muslima und Muslime. Sie runden das Bild der Verteilung der Religionszugehörigkeit in der Bevölkerung ab. Worauf lebt eine christliche Gemeinde zu, der Kreuz und Sämann auch in dieser Situation die Richtung weisen?
3. Ereignisse und Besonderheiten in der Geschichte der Kirchengemeinde
Trotz der angedeuteten besonderen Situation, in die die neue Kirchengemeinde hineinwächst, entfaltet sich rasch ein ganz normales Gemeindeleben »in Gruppen für die Frauen, Männer, Jugend, und manches kommt in Gang«, wie Pfarrer Karl Buschbeck berichtet. Der Frauenkreis siedelt aus der Johanneskirchengemeinde über. Jugendräume im neuen Haus haben sogleich eingeladen und zu Gruppenbildungen geführt. Die Verpflichtung des Gemeindepfarrers als Lagerseelsorger und seine Begegnungen mit den Zehntausenden, die als Aussiedler, Spätheimkehrer, DDR- Flüchtlinge und von all dem Wandern mitgerissene Osteuropäer ankommen und Hilfe, Trost wie Zukunft suchen, haben den Gemeindealltag bereichert. Das Hilfswerk finanziert Stellen für betreuende Personen, unter ihnen Frau Rita Bernotat, die sehr bald in ein Beschäftigungsverhältnis der Gemeinde wechselt und ihr jahrzehntelang haupt- wie ehrenamtlich dient, wie ich sehr bewusst sage, ohne damit kirchliche Insiderterminologie zu pflegen. Die Arbeitsfülle lässt eine 2. Pfarrstelle nötig erscheinen. Am 7.2.1955 wird sie von der Landeskirche errichtet.
Im Rahmen des Üblichen entwickelt die Gemeinde aus verständlichen Gründen und ihrem Namen ebenso entsprechend wie dem Gleichnis vom Sämann in den folgenden Jahren und Jahrzehnten Besonderheiten, die sie bis heute bewahrt. Die älteste Einrichtung der Gemeinde, der Kinderhort, zieht bereits im Dezember 1953 aus der Baracke, Paul-Ehrlich Straße, in seine neuen Räume im Gemeindezentrum um. Nicht Kindertagesstätte, sondern Hort ist in dieser Situation gefragt. Die älteren Kinder und die Heranwachsenden sind gefährdeter als die Kleinen. In der Gemeinde wird der Bedarf erkannt. Wie sich diese Einrichtung erweitert, ist anlässlich des 50jährigen Bestehens vor 7 Jahren beschrieben und gewürdigt worden.
Besondere Stabilität bewahrt die Kirchenmusik der Gemeinde. Von Anfang an, beginnend mit dem 7.2.1954, ist Frau Hildegard Transchel Organistin der Gemeinde offiziell bis November 1988. Sie hat die Freude mit der ganzen Gemeinde geteilt, sich etappenweise instrumental zu verbessern – vom Harmonium, das zum musikalischen gloria dei bei der Einweihung bereit stand, über eine Kleinorgel zur noch heute gebrauchten 21-registrigen Orgel. Musik, Treue und Genauigkeit haben Frau Transchel fasziniert. Ich rede nicht vom Üblichen, sondern frage, wo es in der Kirche noch eine genaue Aufzeichnung über Lieder, Predigttexte und Liturgiebestandteile von jedem Sonntags- gottesdienst seit Anfang der Gemeinde gibt.
In der Jugendarbeit hat sich eine Kontinuität trotz der gerade in diesem Bereich üblichen Berg- und Talerfahrungen gehalten. Sie liegt weder in Personen noch Arbeitsweisen noch Teilnehmerzahlen, sondern in der Offenheit der Gemeinde für das Notwendige immer nach dem Motto: den Bedingungen unterordnen und Zukunft suchen, den Identifikationssymbolen Kreuz und Sämann getreu. Es entwickelt sich aus der gemeindlichen Arbeit eine stadtweite mit Kontakten nach Russland und vielen Aktivitäten, auch politischen. Später steht die Arbeit ähnlich wie nach dem Krieg das Hortangebot für die größeren Kinder im Zeichen der vernachlässigten, im problematischen Ernährungs- zustand beschriebenen und bei der Einführung ins Leben im Stich gelassenen Jugendlichen. Eine Tagesstätte für sie baut Pfarrer Hen Donath mit Unterstützung des Kirchenvorstandes auf.
Nicht ohne Wurzeln, die für viele nicht mehr erkennbar sind, in der jährlich bis 1958 einmal eine »Armenbescherung« vornehmenden Frauenhilfe der Gemeinde entsteht 1977 eine Nachbarschaftshilfe im Bereich der Kreuzkirchengemeinde. Zusammen mit Frauen aus der SPD wird Hilfe für junge Familien, ältere Menschen und werden Veranstaltungen angeboten. Noch heute ist die Nachbarschaftshilfe mit ihrer alten, aber ganz modernen Netzstruktur kaum aus dem Gemeindebereich wegzudenken. Ihre ehrenamtliche Arbeit und spendengetragene Finanzierung ist mit einem einfachen Management der gegenseitigen Verständigung verbunden.
Ich erwähne noch drei Besonderheiten und zwei Ereignisse aus der Geschichte der Gemeinde.
Im Orchester der Stadtgemeinden hatte die jüngste nie einen einfachen Platz. Schon 1954 heißt es in der Chronik nach Erwähnung der Einweihung durch Landesbischof D. Wüstemann: »Pfr. Scheig aus der Joh.kirche hatte seine Teilnahme versagt.« Er war Vorsitzender des Kirchenvorstandes, der baute. Gründe für sein Verhalten hat er genannt. Die Kirchenvorstandsprotokolle geben darüber Auskunft. Doch belegt gerade diese Bemerkung die Zukunftserfahrung, wie stark die Kreuzkirchengemeinde mit ihren eigenen Problemen selbständig umzugehen lernen musste. Dazu gehört aber auch, dass sie mit ihren Aktivitäten gelegentlich für alle Gemeinden in der Stadt zum Stachel im Fleisch wie zum Anlass für Solidarisierungen werden konnte.
1966 wird die schöne Kirche in Gebrauch genommen. Sie zeigt alt hergebrachtes Bemühen unter Christen, mehr zu Gottes Ehre aufzuwenden als sich selbst zu gönnen. Ein unvergesslicher Repräsentant dafür war der seit dem 1.1.1954 über 25 Jahre lang als Küster amtierende Heinrich Rosner – bescheidener und selbstbewusster Verwalter des Lehens seines obersten Dienstherrn.
Um eine Gruppe von Männern entwickelt sich an der Gemeinde eine sehr rege Männerarbeit. In deren Gefolge und Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Problemen sowie dem Versuch, dafür Lösungen aus dem christlichen Glauben zu finden, entstehen politische Auseinandersetzungen. Öffentliche Stellungnahmen etwa zur Frage der Kriegführung mit chemischen Waffen erregten ebenso parteipolitische Reaktionen und Anfeindungen wie später Diskussionen um Abrüstung und Frieden oder Angriffe gegen missverständliche Alternativern, mit denen Parteien in den Wahlkampf zogen. Nicht ohne Konsequenz ergab sich dann im Jahre 1980 eine Besetzung der Kirche durch Atomkraftgegner. Wie bei den in dieser Zeit häufigen großen Demonstrationen in Hanau hat Kirche gerade in solchen kritischen Lagen ihre Möglichkeiten und Kraft erwiesen, gesellschaftliche Konflikte deutlich zu benennen und doch Wege zu zeigen, sie friedlich beizulegen. Eine Einladung zum Gottesdienst in die Kreuzkirche vor einer der großen Demonstration gegen Atomenergie nach dem Tod zweier Polizisten an der Startbahn-West führt Demonstranten und Familienangehörige der Ordnungskräfte zum öffentlichen Gebet um gewaltlosen Umgang miteinander zusammen. Pfarrer Johannes Dersch prägte diese Phase des Gemeindelebens nicht unwesentlich mit.
Seit 1961 ist die erste Pfarrstelle an der Kreuzkirche vom Dekan des Kirchenkreises besetzt. Nach gut 30 Jahren hat sich die Rasanz der Veränderungen auch hier ausgewirkt. Die Situation im Stadtteil, die Verringerung der Gemeindegliederzahlen und die Neugestaltung der Pfarrstellen in der Stadt drängten dazu, 1995 die Dekanspfarrstelle zu verlegen. Dies wurde als so starker Eingriff in das Gemeindeleben verstanden, dass es sehr schwer war, die damit verbundene Chance zu sehen.
4. Von den Chancen der Kreuzkirchengemeinde
Seit 1966 bestehen drei Pfarrstellen in der Kreuzkirchengemeinde. Mit einer Ausnahme sind die Pfarrstellen immer mit zusätzlichen Tätigkeiten verbunden. Es waren die des Dekans und für die dritte Pfarrstelle Unterricht an einem Gymnasium sowie seit 1970 Polizeiseelsorge bei der Bereitschaftspolizei, zuvor beim Grenzschutzkommando.
Da beim Umfang der Pfarrstellen immer von der Größe der Gemeinde und den Gottesdienstzahlen ausgegangen wird, wird üblicherweise, sofern es nötig ist, bei der Auffüllung eines Pfarramtes auf eine ganze Stelle nach Aufgaben gesucht, die Pfarrerin oder Pfarrer als zusätzlicher kirchlicher Auftrag übertragen werden können. In der Kreuz- kirchengemeinde wird deshalb vor knapp 10 Jahren, als die dritte Pfarrstelle wegfiel, mit der zweiten Pfarrstelle Religionsunterricht verbunden. Die Vorstellung war, dass dieser in der dem Gemeindebereich zugehörigen Tümpel- gartenschule erteilt würde.
Diese Vorstellung könnte Zukunftscharakter für die Gemeindearbeit haben. Aktivität der Gemeinde in Problemfeldern ihrer Umgebung mit Hilfe einer hauptamtlich tätigen Person zu unterstützen, wäre ein Weg in die Zukunft. So kann Gemeinde eine Brücke zur Lebenswelt von Gemeindegliedern und im Gemeindebereich lebenden Menschen schlagen.
Voraussetzung dafür wäre, dass das Leitungsgremium Entscheidungen trifft, welchen der Problemfelder in ihrem Gemeindegebiet die Aufmerksamkeit gelten soll. Dann kann es nicht ausbleiben, dass der Kirchenvorstand aus diesem Feld Menschen aufnimmt, die aus ihrer Kenntnis die Entscheidungen der Gemeindeleitung treffsicherer machen.
Wird volkskirchliche Verantwortung neben der Sorge für die im Gemeindebereich lebenden Angehörigen der Kirche auch auf die Probleme ausgedehnt, in denen die Gemeindeglieder befangen sind, lässt sich nur auf diesem Weg eine evangeliumsgemäße und gesellschaftlich verantwortbare Gemeindegestalt, die sich auf Kreuz und Sämann beruft, finden. Dann wird allerdings auch eine sorgfältige Beobachtung des sozialen Gefüges im Gemeindebereich nötig sein ebenso wie eine sorgfältige Auswahl und Vorbereitung der in der Kirchengemeinde hauptamtlich Tätigen, seien es zum Pfarramt oder in anderen Berufen Ausgebildete. Ein Kirchenvorstand, der die Situation der Gemeinde, für die er verantwortlich ist, beschreiben kann, wird sehr gut dazu in der Lage sein. Und er wird erkennen, wie entscheidend für die zukünftige Entwicklung der Kirche Personen sind, die quer durch die gesellschaftliche Schichtung handeln können, Anerkennung finden und vom Evangelium geprägte Achtung allen Menschen entgegenbringen.
Dazu gehört zusätzlich: zum einen sorgfältige Abstimmung mit den Kirchenvorständen in unmittelbarer Nachbarschaft über Vorhaben, Ziele und deren Verwirklichung; und zum andern eine Leitungsentscheidung der Landeskirche: Bei der Bemessung der Pfarrstellen kann es dann nicht mehr nur nach der Größe der Gemeinden und der Zahl ihrer Gottesdienste gehen, sondern es muss berücksichtigt werden, in welchen Problemfeldern der Wirkungskreis der Pfarrstelle liegen soll. Damit ist allerdings grundsätzlich gefragt, wie die Orientierung an der ortsgebundenen Kirchengemeinde zukünftig aussehen soll. Bis so etwas möglich wird, ist noch ein weiter Weg zurückzulegen. Ermutigt wird Kirche dazu durch die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Kirche – Horizont und Lebensrahmen. Weltsichten, Lebensstile, Kirchenbindung, Hannover 2003. Der Hoffnung Gottes zu folgen, wie sie Kreuz und Sämann verkünden, wird Wegweiser sein.
Städtische Chance liegt darin, dass dicht besiedeltes Gebiet sehr viele, natürlich auch nichtkirchliche Einrichtungen beherbergt, die zu Partnern oder Partnerinnen der Kirchengemeinde werden können, gleichzeitig auch anzeigen, wo besonders zu beachtende Aufgaben im Stadtteil zu finden sind. Wichtig wird nur sein, dass Kirchengemeinde ihre Einstellung, wie sie mit den sich stellenden Problemen umgehen will, nicht verhehlt. Wo Kreuz und Sämann Leithoffnungen fürs Denken und Handeln bilden, muss mit allen, mit denen Kirchengemeinde zusammenarbeiten will, sozusagen vereinbart werden: Wir sehen die Bedingungen, unter denen hier gelebt wird; wir wollen sie noch klarer sehen. Aber wir leben mit der Hoffnung, in diesen Bedingungen zu Gottes Ehre den Menschen zu dienen, ihre Verhältnisse zu bessern, wo unsre Kraft dazu reicht, bei ihnen zu bleiben und mit ihnen auf Gott zu hoffen, wo wir dabei scheitern. Auch durch unser Handeln als Gemeinde wollen wir dies bezeugen.
So bleibt Kreuzkirchengemeinde ihrem Namen und der Geschichte vom Sämann treu, die sie bildhaft begleitet, auch wenn ihr das Tempo der städtischen Veränderungen viel Unruhe beschert – oder gerade deswegen.
(Hans Mener war von 1991 bis 1996 als Dekan des Kirchenkreises Hanau-Stadt auch Pfarrer der Kreuzkirchengemeinde.)